>>FARBE LENKT AB!<<

Edgar Reitz
Edgar Reitz
Heimat
Dokufilm Baumwolle Mexiko

»„Heimat“, sagt Edgar Reitz, „ist immer ein Gefühl des Verlusts“. Wer etwas verloren hat, macht sich auf die Suche danach. Edgar Reitz hat es getan: in mehr als 60 Filmstunden zeigt er die Fundstücke der wiedergefundenen Zeit. Er fügt sie zusammen zu Landschaften: In ihnen leben Menschen, leiden, lieben, hassen und sterben. Aber sie verschwinden nicht. Denn das hat die Filmkunst dem wirklichen Leben voraus: Die Menschen im Film sind „gebannt“, sind auf fast alle Ewigkeit festgehalten.


Schon möglich, dass es Zuschauer der Heimat-Filme gibt, die sie wie ein Geschichtsbuch lesen. Aber es sind keine Dokumentarfilme, die „Wahrheit“ ist eine erfundene, gleichwohl sie auf festem Boden zu stehen scheint: Es ist allerdings die Wahrhaftigkeit, mit der Edgar Reitz seine Figuren und Landschaften ins Leben ruft, die so überzeugend ist. „Das Vergängliche haltbar zu machen, das ist für mich der elementare Grund künstlerischer Betätigung“.

Zeit kann man messen, gelebte Zeit nicht. Das weiß der Sohn eines Uhrmachers aus dem Hunsrück, und er fand das Medium, mit dem sich „die Zeit“ überlisten lässt – dem Film. Da kann er die Zeit raffen, beschleunigen, übergehen, entschleunigen oder eben – erfinden. Was im wirklichen Leben unwiederholbar ist – hier ist es möglich.

Edgar Reitz ist, so scheint es, ein „Poeta doctus“, ein „gelehrter Dichter“. Er hat Geisteswissenschaften in München studiert, war Dozent für Regie und Kamera an der ersten deutschen Filmhochschule in Ulm, gründete 1971 in München ein „Kneipenkino“, dessen Menü auf der Tageskarte aus den Kürzestfilmen der Geschichten vom Kübelkind bestand. Ein sanfter Akt der Rebellion wider die Sehgewohnheiten. Aber diesen Aufstand hatte er schon einmal geprobt: Als Mitglied der legendären „Oberhausener Gruppe“, die im Jahre 1962 in einem gemeinsamen Manifest mit den Ritualen und Klischees des damaligen Kinos brach. Vor allem aber war es eine Abkehr vom kommerziellen Kino. Und Edgar Reitz blieb mit fast schon heroischer Sturheit dieser Grundforderung treu – bis auf den heutigen Tag.


So „vielfarbig“ die Geschehnisse in seinen Heimat-Filmen sind, gedreht hat er sie größtenteils in Schwarzweiß – wie zuletzt in Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht – eine Provokation in Zeiten von High Definition und 3 D. „Farbe lenkt ab!“, sagt Edgar Reitz. Und begründet diesen Imperativ: „Schwarzweiß ist eine Abstraktion. Es ist die schönste künstlerische Basis für die Fotografie, weil es das abbildet, womit wir Filmemacher arbeiten: Das Licht. Mit dem Licht kann man malen und gestalten. Kann man Blicke lenken.“

Da haben wir es wieder: Er, der alle Techniken des Film-Handwerks bis ins Detail kennt und beherrscht, „malt“. Bildet nicht ab, sondern malt seine Bilder, erfindet sie, komponiert sie, gestaltet sie. Bringt Akteure, Schauspieler vor die Kamera, denen nicht aus jeder Geste, jeder Bewegung die erlernte Professionalität strömt. Die ausschauen wie wirkliche Menschen, die sich in authentische Umwelten einfügen, als wären sie immer schon dort gewesen.


„Schönheit ist nicht neutral!“ Wieder so ein Kernsatz von Edgar Reitz. „Sie ist eine aus einem starken Gefühl geborene Wahrnehmung“, erklärt er. Und fügt hinzu, was den allerwenigsten Filmemachern als Grundgesetz gelten würde: „Ohne Liebe zum Sujet kann man nichts Schönes machen“.

Liebe. Man merkt sie seinen Filmen in jeder Sequenz an. Denn diese Liebe ist mit Respekt verbunden, mit dem Respekt vor den Menschen, und damit eben auch mit Respekt vor den Zuschauern, die in der Dunkelkammer des Kinosaals den Lichtzeichen auf der Leinwand folgen.

Überhaupt: „Heimat“. Ein oft gequälter Begriff, zu oft in falschem Mund. Heimat – stets eine Sehnsucht, die verklärt, romantisiert, gern verkitscht. Ein Weg zurück in eine Illusion, die zerfällt, wenn man sie nahe genug betrachtet. Aber „Heimat“ ist auch ein Gefühl, das bewegt, in Bewegung setzt. Wie eben Edgar Reitz, der zurückgeht in vorige Jahrhunderte. Und, wie zuletzt in Die andere Heimat, zeigt, warum Menschen weggehen. Ihren angestammten, vertrauten Grund und Boden verlassen, weil sie dort nicht leben können, weil sie dort keine Gegenwart und auch keine Zukunft haben. Ein großes, universelles Thema, bei ihm im Hunsrück zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der Perspektive auf eine Gegenwart, die Menschen weltweit dazu treibt, fortgehen zu müssen. Es ist ein poetischer und ein wissender Blick, den Edgar Reitz zurück in eine weite Ferne wirft und der dennoch immer wieder hier und jetzt ankommt. Kaum jemand, der den Grenzbereich zwischen Film und Wirklichkeit so ausgeleuchtet hat wie er. Ein Poet.

 

Jochen Schmoldt
Journalist